Neuer Ansturm auf die Kanaren

Flüchtlinge nutzten Unterbrechung der Frontex-Mission an der afrikanischen Küste

Die Menschenschleuser haben eine vorläufige Unterbrechung der Frontexmission Hera genutzt und Dutzende Flüchtlingsboote auf die Reise über den Atlantik geschickt. Innerhalb von vier Tagen kamen fast tausend „Boat People“ auf den Inseln an.

Fast zeitgleich meldete das spanische Innenministerium, dass mehrere Hundert Marokkaner und Mauretanier auf verschiedenen Flügen in ihre Heimatländer zurückgeschickt worden sind. Trotzdem sind die Internierungslager auf den Inseln überlastet und es wächst die Angst vor einer Wiederholung der Flüchtlingszahlen vom letzten Jahr – über 31.000.

Der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Franco Frattini, hat angesichts des neuen Flüchtlingsansturms auf die Kanaren eingeräumt, dass für den Frontex-Einsatz vor Westafrika mehr Mittel benötigt werden.

Am 21. Mai fand in Eltville im Rheingau das erste Treffen einer neuen Arbeitsgruppe der EU-Innenminister über die künftige EU-Sicherheitspolitik statt. Dabei kam von Spanien der Vorschlag, europäische Kontrolleinheiten in den Herkunftsländern der Immigranten einzusetzen. 

Es scheint dieselbe Szene zu sein, wenn man in den kanarischen Häfen in Decken gehüllte Afrikaner sitzen sieht, die von Sanitätern des Roten Kreuzes versorgt werden. Die Bilder wiederholen sich täglich und lassen die Gefahr aufkommen, dass der Betrachter abstumpft und vergessen könnte, dass jedes Augenpaar ein persönliches Schicksal, seine eigene Tragödie erlebt.

Die Migrationswelle aus Afrika in Richtung Kanaren will kein Ende nehmen, und auch der Einsatz der europäischen Grenzschutzagentur Frontex an der westafrikanischen Küste scheint der Menschenflut vom Schwarzen Kontinent nicht Herr zu werden. Bootsflüchtlinge, Armutsflüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge – wie auch immer die Menschen bezeichnet werden, die in den unsicheren Holzbooten über die Kanaren nach Europa kommen, ihnen allen steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Die Aussicht auf eine ungewisse Zukunft in Europa mit dem tödlichen Risiko der Überfahrt scheint ihnen lieber zu sein als die Zukunft ohne Aussicht in der Heimat. Es scheint der verzweifelte Hilferuf eines ganzen Kontinents zu sein.

Elf Boote in neun Stunden

Innerhalb von neun Stunden kamen am 11. Mai zwei Schlauchboote, zwei Cayucos und sieben kleine Holzboote an den Küsten von Lanzarote, Gran Canaria und Teneriffa an. Über 240 Flüchtlinge kamen mit dieser scheinbar koordinierten und genau geplanten Operation auf die Kanaren, darunter auch viele Marokkaner. Wie die Polizei mitteilte, war der „Massenangriff“ auf Gran Canaria – allein auf dieser Insel kamen acht Boote an – von den Menschenschleuserbanden von Marokko aus genauestens geplant worden, so dass die unvollständige Radarüberwachung des Meeres um Gran Canaria keine Chance hatte und von den Flüchtlingsbooten leicht umgangen werden konnte. Nach dem Motto „alle auf einmal“ waren die Boote offensichtlich mit Absicht gleichzeitig gestartet. Experten wiesen darauf hin, dass die acht blau gestrichenen, etwa 5 m langen Fischerboote, die alle mit 40 PS Motoren ausgestattet waren, vermutlich von einer Bucht in der Nähe von Cabo Bojador (Marokko) aus gestartet waren und in etwa 25 bis 30 Stunden auf direktem Weg Gran Canaria erreichten. Etwa 12 Meilen vor der Küste hätte sich die Gruppe dann zerstreut und jedes der Boote sei mit hoher Geschwindigkeit auf einen anderen Punkt der Küste zugesteuert, so dass die einzige mobile Radarüberwachungsanlage der Insel und das ebenfalls einzige im Einsatz befindliche Patrouillenschiff der Guardia Civil nur wenig Chancen hatten, alle Flüchtlinge festzunehmen. Es wurden leere Boote mit nassen Kleidungsstücken gefunden und am Strand von Maspalomas mussten Polizisten hilflos zusehen, wie Dutzende Bootsflüchtlinge von Bord gingen und flüchteten. Gezählt wurden an diesem Tag 240 illegale Immigranten.

Während der Schock über diesen akkurat geplanten Massenansturm noch andauerte, steuerten bereits die nächsten Boote auf Teneriffa zu. Das spiegelglatte Meer und die auch ansonsten hervorragenden Wetterverhältnisse am zweiten Maiwochenende begünstigten die Reise der illegalen Einwanderer. Am Montag meldete die Lokalpresse, dass über das Wochenende fast 600 marokkanische und afrikanische Flüchtlinge die Inseln erreicht hatten, darunter auch wieder zahlreiche Minderjährige. Und auch mit Beginn der neuen Woche ließ der Flüchtlingsstrom nicht nach. In vier Tagen wurden schließlich 909 illegale Einwanderer gezählt, 347 davon kamen am 14. Mai an.

Der überwiegend gute Gesundheitszustand der Menschen lässt darauf schließen, dass die Wetterverhältnisse eine schnelle und problemlose Überfahrt ermöglichten. Nur wenige mussten wegen Flüssigkeitsmangel und Verbrennungen behandelt werden. Nicht so gut erging es den Insassen eines Flüchtlingsbootes, das am 15. Mai Teneriffa erreichte. Wie die Immigranten selbst berichteten dauerte ihre Reise von Guinea Bissau aus elf Tage. Trotzdem befanden sich die Männer alle in recht guter Verfassung.

70% der Flüchtlinge, die in den letzten Tagen auf den Kanaren ankamen wurden in das Lager in Hoya Fría auf Teneriffa gebracht, das mit über 400 Personen wieder einmal überbelegt ist (die offizielle Aufnahmekapazität des Auffanglagers beträgt 326 Plätze).

EU-Kommissar Frattini räumt Schwächen der Grenzschutzaktion ein

Frontex-Einsatz benötigt mehr Mittel

Der Vizepräsident der Europäischen Kommission und für Justiz, Freiheit und Sicherheit zuständige EU-Kommissar Franco Frattini hat angesichts des neuen Flüchtlingsansturms auf den Archipel eingeräumt, dass die Mittel der Operation „Hera 2007“ der Grenzschutzagentur Frontex, die das Auslaufen der Flüchtlingsboote in Afrika unterbinden soll, begrenzt sind. „Es ist zu wenig“ musste Frattini zugeben, denn momentan beteiligen sich an dem EU-Einsatz nur Spanien und Italien.

Der EU-Kommissar teilte in Brüssel mit, dass er Frontex-Koordinator Ilkka Laitinen aufgefordert hat, die Mitgliedsstaaten zu mehr Solidarität und einer stärkeren Kooperation anzuhalten und mehr Schiffe zur Patrouille an der afrikanischen Küste zu entsenden.

Frattini fordert einen stärkeren Einsatz der europäischen Partner im Kampf gegen die illegale Einwanderung.

Insbesondere angesichts des vermutlich weiterhin anhaltenden Migrationsflusses sei der Einsatz von mehr Mitteln notwendig, befindet Frattini. Die Europäische Kommission rechnet damit, dass auch in den kommenden Monaten weiterhin illegale Immigranten Europa über die Kanaren und das Mittelmeer ansteuern werden.