Flüchtlingsstrom überfordert die Kanaren
Angesichts der dramatischen Lage, die sich im August mit der Ankunft von mehreren tausend Schwarzafrikanern noch weiter zugespitzt hat, forderte die kanarische Regierung von Madrid die Bildung eines Krisenkabinetts, „um auf die sich ständig verändernde Lage zu reagieren“, wie es der Chef der Regionalregierung, Adán Martín ausdrückte. Das Seegebiet zwischen dem Archipel und dem Senegal habe sich in einen Strom der Cayucos verwandelt, klagt Martín, der eine weitere Zunahme der Flüchtlingszahlen während der nächsten Wochen befürchtet.
Ein Sprecher der kanarischen Regierung erklärte der spanischen Tageszeitung El País gegenüber, dass „niemand auch nur eine Minute länger diese Tragödie dulden kann. Europa, die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft müssen diesem Problem gegenübertreten und es mit derselben Dringlichkeit und mit demselben Respekt behandeln, wie jede einzelne dieser Personen, viele davon gerade mal 15 Jahre alt, es verdient haben.“
Knapp 13.500 mehr als 2005
Die vorläufige Jahresbilanz spricht für sich: 18.199 illegale Immigranten haben mittlerweile die Inseln erreicht. Das sind im Vergleich zum Vorjahr knapp 13.500 mehr und schon damals galt die Lage als besorgniserregend. Besonders auf Teneriffa hat sich die Lage seit dem vergangenen Jahr drastisch verändert. Während zwischen Januar und August 2005 nur 637 Flüchtlinge auf der größten Kanareninsel ankamen, sind es in 2006 bislang 10.205. Demzufolge platzen die zum Teil notdürftig eingerichteten Immigranten-Internierungslager aus allen Nähten. Auch wenn aus Regierungskreisen verlautete, dass die Internierungslager nicht überlastet sind und das Camp in Las Raíces beliebig vergrößert werden könne, verhindern nur ständige Überführungen auf das spanische Festland eine Überlastung.
Rekordwochenende
Am Wochenende von Freitag, dem 18. bis Sonntag, dem 20. August wurde ein neuer Rekord aufgestellt. Am Freitag kamen 512 Flüchtlinge an, am Samstag waren es 324 und am Sonntag erreichten weitere 432 Afrikaner den Archipel. 1.268 Immigranten in knapp drei Tagen. Auf El Hierro wurde eine Gruppe von 132 Flüchtlingen vorläufig unter Quarantäne gestellt, weil einer von ihnen angegeben hatte, an Tuberkulose zu leiden.
Internationale humanitäre Notlage
Auch CC-Präsident Paulino Rivero hat sich über die mangelnde Wirksamkeit der zur Bekämpfung dieses Problems ergriffenen Maßnahmen beklagt. Angesichts der verantwortungslosen Haltung der spanischen Regierung und der Tatsache des Misserfolgs bei der Bekämpfung des Problems habe seine Partei beschlossen, eine Überarbeitung des Zuwanderungsgesetzes sowie die Schaffung eines neuen Ministeriums der Immigration zu fordern. „Wir befinden uns in einer internationalen humanitären Notlage“, sagte Rivero und erinnerte daran, dass allein im August über 3.500 Flüchtlinge die Inseln erreichten. Doch noch viel dramatischer, so der CC-Präsident, sei die Zahl der Todesopfer. Rund 500 Tote wurden im Laufe dieses Jahres geborgen. Doch die Dunkelziffer ist viel größer. „Schätzungen machen uns bewusst, dass der Atlantik zwischen den Kanaren und Afrika immer mehr zu einem Friedhof wird“, bedauerte Rivero. Experten und Hilfsorganisationen schätzen die Zahl der auf hoher See Ertrunkenen, Verdursteten und Verhungerten auf über 3.000. Es wird davon ausgegangen, dass jedes vierte Flüchtlingsboot sein Ziel nie erreicht.
Gemeinsame Patrouilleneinheiten mit dem Senegal
Der spanische Innenminister Alfredo Pérez Rubalcaba kündigte am 21. August an, dass demnächst spanisch-senegalesische Patrouillen den Atlantik überwachen werden. In den nächsten Tagen sollen ein Hubschrauber und zwei Patrouillenschiffe der Guardia Civil im Senegal eintreffen, um an der gemeinsamen Mission mitzuwirken. Dies erklärte der Minister im Anschluss an ein Treffen mit seinem senegalesischen Kollegen Ousmane N Gom in Dakar. Der senegalesische Minister bedankte sich für die spanische Unterstützung, wies jedoch darauf hin, dass es sich um ein „humanitäres Drama“ handele, das auch als solches behandelt werden müsse. N Gom fügte hinzu, dass den jugendlichen Emigranten neue Zukunftsperspektiven in ihrem Heimatland fehlen und rief die EU dazu auf, das „Programm Reva“ finanziell zu unterstützen, das die landwirtschaftliche Entwicklung fördert.
Ministerpräsident Zapatero kündigte auf einem Meeting in Las Palmas de Gran Canaria an, dass die Regierung 2007 die finanziellen Mittel zur Unterstützung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Afrika verdoppeln wird. Dies sei „der einzige Weg, um die Armut, die Ungerechtigkeit und Ungleichheit in Afrika auszurotten“, erklärte Zapatero. Erstmals gab der Regierungspräsident zu, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen, um den Flüchtlingsansturm zu bremsen, nicht ausreichend sind. Die Vizeregierungschefin María Teresa Fernández de la Vega wird in den nächsten Tagen nach Finnland reisen, um von der Europäischen Union einen stärkeren Einsatz und mehr Mittel für den Grenzschutz zu fordern.
Demo im Senegal
„Die Religion verbietet Selbstmord“
Wie die senegalesische Zeitung „Le Soleil“ berichtete, gingen im Gebiet von Guest-Ndar, wo auch die Stadt Saint Louis – Treffpunkt vieler Flüchtlinge – liegt, tausende Senegalesen auf die Straße, um gegen die Emigration zu demonstrieren. Auf Transparenten standen Sprüche wie „Nein zur illegalen Immigration“ und „Die Religion verbietet Selbstmord“.
Es handelt sich um die erste Kundgebung dieser Art im Senegal, die Fischer und junge Menschen auf die negativen Seiten der Flucht aus ihrem Land aufmerksam gemacht hat. Die Tatsache, dass sogar einige Dorfälteste diese Demonstration unterstützten lässt erwarten, dass die Aktion den erhofften Einfluss auf die Bevölkerung erzielt.
Warten auf Frontex
Der Generaldirektor der Guardia Civil bat während seines Besuchs auf Teneriffa um Geduld, was den Einsatz der EU Grenzschutzagentur Frontex angeht. Patrouillenschiffe, Hubschrauber und ein Überwachungsflugzeug sollten ursprünglich schon ab dem 10. Juli zum Einsatz kommen, die Aktion verzögerte sich jedoch aus verschiedenen Gründen immer wieder. Wie Joan Mesquida dem kanarischen Regierungschef Adán Martín nun versicherte, soll Frontex definitv am 25. August das Seegebiet zwischen den Kanarischen Inseln, den Kapverden und Westafrika überwachen. Ein portugiesisches Schiff liegt bereits in einem kapverdischen Hafen und ein italienisches Schiff wird vor der Küste des Senegals zum Einsatz kommen. Spanien stellt ein Patrouillenschiff, zwei Hubschrauber und ein Grenzschutzschiff zur Verfügung. Außerdem wird unabhängig von Frontex die Kontrollmission des Patrouillenschiffes Río Duero, das in mauretanischen Gewässern Flüchtlingsboote abfängt, um 95 weitere Tage verlängert. 1.243 Afrikaner konnte die Besatzung dieses Schiffes bislang auf ihrem Weg zu den Kanaren abfangen.