Behinderungen

Gedanken für mich – Augenblicke für Gott

In der Bibel gibt es ja eine Vielzahl von wunderbaren Heilungsgeschichten, aber eine ist darunter, die hat es mir im Besonderen angetan. Es ist die Heilung eines Blinden am Wegrand, wie es uns im Johannes-Evangelium (9, 1-12) überliefert ist.

Mich zieht diese Heilungserzählung deshalb so in ihren Bann, weil es in ihr zum einen ganz handfest, dann aber auch sehr intim und zärtlich zugeht – und: Weil die Jünger etwas ganz Entscheidendes begreifen lernen.

Zunächst einmal streicht Jesus diesem Mann eine Salbe auf die Augen, die er vorher aus Erde und seiner Spucke angerührt und zusammengemixt hat. Dieser lässt die Handlung an sich geschehen und geht dann, wie Jesus es ihm aufgetragen hat, zum Teich Shiloach, wo er sich die Augen von dieser Mixtur auswaschen soll. Und was passiert? Der Blinde kommt sehend wieder. Das an sich ist ja eigentlich schon Wunder genug, zumal uns im Text nicht überliefert ist, dass der Blinde überhaupt um diese Heilung gebeten hat. Aber das noch größere Wunder ist, dass die Jünger bei der ganzen Sache etwas Entscheidendes begreifen, etwas, das sie zum Umdenken zwingt. Es geht um die Erkenntnis, dass Krankheit und Behinderungen keine Strafen Gottes sind. Sie sind nicht die Antwort auf Sünden oder Schuld, die die Menschen begangen haben – oder auch ihre Vorfahren. Vielmehr sind sie Teil der Schöpfung und es kann das Wunder geschehen, dass auch darin etwas vom Tun Gottes aufleuchtet und sichtbar wird.

So zumindest erklärt es Jesus seinen Jüngern. Es ist gerade das Gegenteil dessen, was diese denken und was sie auch hören wollten. Denn an diesem blinden Bettler, da wollten sie bestätigt bekommen, was sie und auch viele andere dachten: Dass dieser oder seine Familie nämlich selber schuld seien an seiner Behinderung. Deshalb hatten sie Jesus überhaupt auf ihn angesprochen – und nicht, weil sie die Not dieses Menschen anrührte. Und gegen ihre felsenfeste Überzeugung antwortet ihnen Jesus: Nein – „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“

Wenn ich da so in mich hineinhöre, dann spüre ich da nicht nur den Widerspruch der Jünger, sondern auch meinen eigenen: Ist das, lieber Herr Jesus, nicht ein klein wenig über das Ziel hinausgeschossen? Wie kann man denn bitteschön so etwas behaupten, dass in einer solch eklatanten Behinderung „das Wirken Gottes offenbar werden soll“? Kann man das denn wirklich auch noch sagen, wenn man jemanden an einer Krankheit zerbrechen, an einer Behinderung verzweifeln sieht?

Beim Versuch, all dies zu verstehen, hilft mir eine Auslegung der Geschichte, die ich von einem Mitbruder gehört habe und die sich mir besonders eingeprägt hat, weil er selbst im Rollstuhl sitzt. Er sagt: Ich und auch du – wir müssen sagen können, dass Gott dieses mein behindertes Leben will, und dass ich bei Gott, so wie ich bin, ganz und gar vollständig bin – ein Geschöpf Gottes, wenn auch im Rollstuhl. Das musste ich selbst unter vielerlei Kämpfen erst annehmen lernen. Aber: Ich werde es sagen. Und du? Du schau mich bitte an und prüfe dich: Ob du immer noch das Vorurteil in dir sitzen hast, dass ein körperlich gesunder Mensch vor Gott mehr gilt und mehr von Gott gesegnet ist, als einer wie ich. 

Was er da so gesagt hat, hat mich zunächst irritiert. Denke ich wirklich so? Wie kann er davon sprechen, dass er „ganz und vollständig“ ist, wo er das doch ganz offensichtlich eben nicht ist? Er braucht Hilfe, er kann nicht das tun, wozu andere wie selbstverständlich in der Lage sind: Laufen, herumrennen, tanzen. Und doch empfindet er sich in den Augen Gottes als vollständig und ganz. Und er will nicht, dass ihm genau diese Überzeugung andere wieder auszureden versuchen.

Mir ist deutlich geworden: In dieser eingangs erwähnten Erzählung wird nicht nur der blinde Bettler geheilt, sondern auch all diejenigen, die sich in ihrem Denken so festgefahren haben, dass sie nicht mehr den Menschen sehen, sondern nur noch auf Ursachenforschung gehen. Das passiert rasch, wenn Menschen es mit Krankheit und Behinderung in ihrem Lebensumfeld zu tun bekommen. Die Geschichte aber erhebt genau dagegen Einspruch und sie zeigt:

Nicht ich als Außenstehender, nicht irgendwelche geistlichen Autoritäten dürfen über einen anderen Menschen sagen, dass jemand unvollkommen oder unvollständig sei; dass eine Krankheit für ihn oder sie Sinn mache oder nicht, oder dass Gott durch eine solche Begebenheit eine Weiche in seinem oder ihrem Leben stelle. Die einzige Person, die das sagen kann und sagen darf, ist die betreffende selbst. Und ich kann immer nur mitgehen. Dieser Weg kann durch Klage und Auflehnung führen, wenn ein Mensch sich als „gott-los“ erfährt. Aber er kann manchmal auch staunend miterleben lassen, wie ein Mensch den Frieden mit Gott findet. Eine wunderbare Erfahrung – auch für mich!

Bertram Bolz, Diakon

Kath. Touristen- und

Residentenseelsorger

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