Die Folgen des Zugunglücks

Die Suche nach den Ursachen und der Verantwortlichkeit

Nach dem schweren Zugunglück, das sich Ende Juli bei Santiago de Compostela ereignete, dem schwersten seit dem Zweiten Weltkrieg, kommt Spanien nicht zur Ruhe. Täglich berichten die Medien über neue Erkenntnisse, die zur Aufklärung des Unglücks beitragen sollen.

Madrid – Fieberhaft suchen die Ermittler und die Politiker nach den Ursachen und der Verantwortlichkeit, denn die Bevölkerung verlangt Antworten und Verbesserungen bei der Sicherheit. Wie so oft hat eine Verkettung von Fehlern die Tragödie verursacht; die Schuld scheint nicht allein beim Zugführer zu liegen, sondern auch auf technischen und politischen Fehlentscheidungen zu basieren.

Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen spielte sich das Unglück folgendermaßen ab: Am Abend des 24. Juli saß Francisco José Garzón nach einer über achtstündigen Schicht am Schaltpult des Alvia-Zuges von Madrid nach Ferrol. Bei Á Grandeira, kurz vor Santiago de Compostela, nahm das Unglück seinen Lauf. Der Zug fuhr mit erlaubten 190 km/h, als Garzón einen Anruf vom zentralen Zugüberwacher erhielt, der ihn fast zwei Minuten in Anspruch nahm und scheinbar vollkommen ablenkte. Der Zug näherte sich einer sehr engen, gefährlichen Linkskurve und hätte vier Kilometer vorher von 190 km/h auf 80 km/h heruntergebremst werden müssen. Doch vom Telefonat abgelenkt, unterließ Garzón die Verringerung der Geschwindigkeit und ignorierte sogar eine erste Bremswarnung. Wenige hundert Meter vor der Kurve bemerkte der Zugführer erschrocken seinen Fehler, unterbrach das Gespräch und leitete eine Notbremsung ein, jedoch zu spät. Der Zug raste in die Kurve und entgleiste. 79 Menschen kamen ums Leben, einige Dutzend erholen sich derzeit noch in verschiedenen Krankenhäusern von ihren schweren Verletzungen.

Das Unglück geht nicht nur wegen seiner Schwere, sondern auch wegen der Hilfsbereitschaft und Solidarität der Einwohner von Á Grandeira, die den Opfern tatkräftig und ohne Zögern Hilfe leisteten, in die Geschichte ein. Und es wird auch für eine Verbesserung bei der Sicherheit des spanischen Zugverkehrs sorgen.

Zuerst machte man allein den Führer für das Unglück verantwortlich, doch die Ermittlungen bringen nach und nach zutage, dass das Unglück trotz des menschlichen Fehlverhaltens hätte verhindert werden können, wäre ein automatisches Bremssystem installiert worden. Der 87 km lange Streckenabschnitt zwischen Ourense und Santiago wurde 1999 entworfen. Für europäische Hochgeschwindigkeitszüge ausgelegt, sollte die Strecke mit einem automatischen Bremssystem ausgestattet werden, welches die Geschwindigkeit der Züge kontrolliert, bei Abweichungen den Fahrzeugführer warnt und bei dessen Untätigkeit automatisch den Bremsvorgang auslöst. Doch weil der Bau einer AVE-Hochgeschwindigkeitsstrecke in Verzug war und der „normale“ Hochgeschwindigkeitszug aus Madrid auf der in Spanien üblichen Schienenbreite fährt, fiel die Entscheidung schlussendlich auf eben diese Schienenbreite. Und, aus ungeklärten Gründen, auf ein abgespecktes Warnsystem, welches nur Alarm schlägt, jedoch nicht automatisch abbremst.

Untersuchung des spanischen Zugsystems und erste Maßnahmen

Während die Ermittlungen laufen, das Gericht Zeugenaussagen anhört und die Opfer und ihre Angehörigen auf Aufklärung hoffen, wurden zwei Kommissionen mit der Untersuchung der Hintergründe und generell des spanischen Zug­­systems beauftragt. Das komplette Streckennetz mit der Linienführung und den Höchstgeschwindigkeitsanlagen sollen unter die Lupe genommen werden, um sicherheitstechnische Verbesserungen durchzuführen. Allerdings verlangen die Opposition und auch der renommierte Richter Baltasar Garzón, welcher die Vertretung der Familie eines Unfallopfers angenommen hat, die Untersuchungen von unabhängigen Gutachtern vornehmen zu lassen. Ana Pastor, Ministerin für Transport und Inlandsentwicklung, hat bereits ein Maßnahmenpaket vorgestellt, welches eine erhöhte medizinische und psychologische Kontrolle der Zugführer, die Installation von Freisprechanlagen in der Fahrerkabine und die verbesserte Ausstattung potenziell gefährlicher Streckenabschnitte mit dem automatischen Bremssystem vorsieht. Auch sollen unentgeltlich reisende Kleinkinder jetzt trotz Ticketfreiheit immer den Check-in passieren müssen, um zu verhindern, dass bei einem Unglück vollkommene Unklarheit über die Zahl im Zug reisender Kinder besteht.

Auf dem Unglücksabschnitt wurden mittlerweile drei Vorrichtungen installiert, die beim Übertreten der Höchstgeschwindigkeit den Zug umgehend auf 160, 60 und 30 km/h abbremsen.