Lasten mittragen


Gedanken für mich ­– Augenblicke für Gott

Vor Kurzem sagte mir eine Frau am Telefon: „Wissen Sie, was mir wirklich gut getan hat? Dass ich auf einmal nicht mehr die ganze Last allein auf meinen Schultern hatte. Da waren auf einmal andere da und haben sie mit mir mitgetragen.“

Ihre Erleichterung war für mich am Telefon beinahe körperlich spürbar. Die Stimme, die so zuversichtlich klang, als sie sagte: „Auf einmal lag die Last nicht mehr allein auf meinen Schultern.“

Sicherlich wissen Sie aus eigener Erfahrung, was sie damit gemeint hat. Das Leben kann sich Menschen oft auf die Schultern legen wie eine zentnerschwere Last. Nur – diese sieht man so nicht; man nimmt bei den Betroffenen nur wahr, dass sie eben schwer am Leben tragen. Da hängen die Schultern, da sieht das Gesicht müde aus und die Augen schauen oft durch einen durch. Ja, der ganze Körper wirkt gedrückt und irgendwie gehemmt. Meist wird man diese unsichtbaren Lasten viel schwerer los, als die sichtbaren. Einen Sack Kartoffeln oder einen schweren Koffer, all das kann man abstellen, wenn sie zu schwer werden. Aber die unsichtbaren Lasten? Die werden oft zu einem regelrechten Alltags- und Lebensbestandteil.

Gerade deshalb aber tut es gut, wenn man sie nicht mehr allein tragen muss. Wenn jemand mitträgt und die Last auf mehrere Schultern verteilt wird. Und es ist ein Glück, dass das geht: Man kann auch die unsichtbaren Lasten des Lebens von anderen mittragen lassen. Oft hat man ja das Gefühl, das kann ich nur allein; das kann mir niemand abnehmen. Doch ich glaube, das stimmt so nicht. Es gibt keine Last, die andere nicht auch mittragen können. Aber dazu gehört eben auch, dass man sie mittragen lassen muss.

Bei der Frau am Telefon war es die Last der schweren Krankheit des Vaters. Er wollte nicht mehr. Im Krankenhaus hatte man medizinisch alles versucht, ihn wieder auf die Beine zu bringen. Aber er hatte genug vom Leben; er wollte nicht mehr; hatte keine Freude und Kraft mehr. Immer wieder diese Schmerzen: Lasst es gut sein. Wenn man das als Tochter oder Sohn miterleben muss, dann kann das schwer auf den eigenen Schultern liegen. Was soll man da machen? Was ist das Beste in einer solchen Situation?

Schließlich haben sie miteinander entschieden, dass es für ihn das Beste wäre, in ein Hospiz zu gehen, um dort in Würde zu Ende zu leben. Und es hat sich bestätigt, dass das richtig war. Die Frau hat mir erzählt, dass der Vater dort sehr gut versorgt wurde; dass die Betreuenden viel Zeit für ihn aufgewendet hätten und dass er nicht mehr so viele Schmerzen erleiden musste. All das hat ihr gutgetan. Denn wenn auf einmal andere mittragen, dann kann man selber auch wieder viel mehr; da hat man selber auf einmal wieder ungeahnte Kräfte. Und: Man kann sich selbst wieder aufrichten. Bekommt wieder Luft zum Atmen und kann lachen. Neuer Mut tut sich auf – Mut, der auch dem anderen, hier dem Vater, beim Leben hilft.

Eigentlich ist das ja eine alte Erkenntnis, die wir so bereits in der Bibel finden. Für den Apostel Paulus ist es sogar ein Gottesgeschenk, dass wir Menschen das so können: An den Lebenslasten, die andere drücken, mittragen, auch die unsichtbaren. Deshalb schreibt Paulus auch an einen Freund: „Gott hat uns keinen Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“. Und in einem anderen Brief schreibt er: „Einer trage des anderen Last, dann erfüllt ihr das Gebot, das Jesus uns allen gegeben und aufgetragen hat.“

Wenn das so eine alte und gute Erfahrung für Menschen ist, frage ich mich doch: Mache ich eigentlich genug Gebrauch von diesem Gottesgeschenk? Oder habe ich Angst oder bin ich vielleicht zu bequem, um an den Lasten von anderen mitzutragen? Und andererseits: Wenn mich was drückt, lass ich mir dann helfen, wenn andere bereit sind mitzutragen? Oder fällt mir das schwer? Vielleicht weil ich zu pflichtbewusst oder gar zu stolz bin und denke, dass ich das alles allein schaffen muss? Oder weil ich andere nicht mit meinen Sorgen und Lasten belästigen will?

Paulus erinnert daran: Geht zum einen nicht sparsam mit diesem Gottesgeschenk um und lasst es euch schenken und nehmt es an. Oder anders ausgedrückt: Es bricht mir doch kein Zacken aus der Krone, wenn ich Lasten von anderen mittrage und auch nicht, wenn ich andere meine Lasten mittragen lasse. Und Ihnen bricht auch kein Zacken aus der Krone – mit Sicherheit nicht. Vielmehr meint Paulus sogar, dass, wenn wir Lasten auf mehrere Schultern verteilen, sogar noch Zacken in unseren Kronen dazukommen, die vorher aus Geiz oder Stolz einfach gefehlt haben.

Wobei ich eines noch wichtig finde: Ich glaube, man muss das Lastentragen und auch das Mittragenlassen, üben. Und zwar mit alltäglichen, kleineren Lasten. Dann kann man es auch in den schweren Lebenssituationen tun. Weil die Frau am Telefon auch schon früher anderer Hilfe angenommen hat, ist es ihr leichter gefallen, den Menschen im Hospiz zu vertrauen. Und wenn ich im Alltag nicht übe, einem anderen Lasten tragen zu helfen, wie soll ich mir dann die ganz schweren zutrauen?

Es tut gut, wenn man übt, einander gutzutun. Dann bleiben die Lasten nicht nur an einem hängen. So könnten wir uns immer und immer wieder entlasten – auch ganz ohne Urlaub…

Herzlichst, Ihr

Bertram Bolz, Diakon

Kath. Touristen- und

Residentenseelsorger




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